- Wiener Klassik und der Begriff des »Klassischen«
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Die Begriffe »klassisch« und »Klassik« sind in der Musik besonders schillernd und kaum präzise bestimmbar. Und der Ausdruck »Wiener Klassik«, mit dem seit dem frühen 19. Jahrhundert das Werk der in Wien wirkenden Komponisten Franz Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart sowie meist auch Ludwig van Beethovens bezeichnet wird, suggeriert leicht eine epochale Einheit, die es so nicht gegeben hat. Doch bleibt ein differenzierter Gebrauch der Begriffe sinnvoll und vor allem historisch erforderlich, denn mit den verschiedenen Facetten des Klassikbegriffs ist nicht nur die Rezeptionsgeschichte der Wiener Klassik untrennbar verbunden. Vielmehr hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit ihr ein (neues) historisches Bewusstsein gebildet, das bis heute die Grundlagen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Musik prägt.Die Musik kann im Unterschied zur bildenden Kunst und zur Literatur auf keine »antike Klassik« zurückblicken. Die Wiener Klassik ist eine neuzeitliche Klassik und wird deshalb im Deutschen auch »klassizistisch« genannt, obgleich ihr genau jenes Moment fehlt, das in den anderen Künsten den Wortgebrauch »Klassizistisch« bestimmt: eben das der Wiederbelebung (antiker) klassischer Ideale. Klassizistisch in der Musik werden darüber hinaus auch jene historistischen Stilrichtungen des 19. Jahrhunderts genannt, die als Reaktion auf die Überwindung des Wiener Klassischen im Romantischen in einer Wiederbelebung Wiener klassischer Ideale aufgingen. Ebenso zeigt der Blick auf die Nachbarkünste zur Zeit der Wiener Klassik eine verwirrende Bedeutungsvielfalt der Begriffe bei (annähernder) Gleichzeitigkeit der Erscheinungen. So heißt die entsprechende Phase in der Baukunst »neoklassizistisch«, weil es eine »klassizistische« schon gegeben hatte, während zur gleichen Zeit Schiller und Goethe zu einer literarischen Klassik (»Weimarer Klassik«) finden, die nicht Klassizismus heißt, obgleich sie (auch) auf der Erneuerung antiker Ideale gründet.Daneben ist im 20. Jahrhundert vor allem der musikalische Klassikbegriff durch eine weitere Bedeutungsebene problematisch geworden, die durch die Medien und den Konzertbetrieb hinzugekommen ist. »Klassik« als Ware oder Sparte zum Beispiel neben Pop-, Rock- und Jazzmusik oder noch schlichter: Klassik als Synonym für die »Ernste Musik«, oft mit dem Kürzel »E-Musik« etikettiert, die dann im Gegensatz zu einer alle anderen Sparten umfassenden Unterhaltungsmusik (»U-Musik«) auftritt. Dabei ist allerdings die absurd erscheinende Identifizierung von Klassik und »Ernst« - U-Musik wäre demnach »unernst« - die Folge einer nachvollziehbaren Entwicklungsgeschichte, die durchaus bis auf die Wiener Klassik zurückgeht und von der zunehmenden Polarität in der Diskussion um Kunst oder Nicht-Kunst schon im 19. Jahrhundert bestimmt ist.Im engeren Sinne meint klassisch und Klassik in der Musik vor allem dreierlei: einmal eine Wertung, dann eine historische Epoche oder Station in der Entwicklungsgeschichte der Musik und drittens ihre besondere Ausprägung eben in der Wiener Klassik.»Klassisch« als wertendes Attribut gibt es in der Musik wie in den anderen Künsten auch. Der Ausdruck ist von der Bezeichnung der zur »Classis prima« gehörenden »ersten« römischen Bürger-»Klasse« abgeleitet, dem »Civis classicus«, und bedeutet bis heute »erstrangig«, »vorbildhaft«, »erstklassig«. In dieser Hinsicht klassisch vor allem seit dem 18. Jahrhundert in der Musik so viel wie »mustergültig« oder »überdauernd«, und der »Klassiker« ist derjenige Komponist, der es, wie der »Scriptor classicus« der Antike, zu ausgereifter Meisterschaft gebracht hat. Auch heute noch werden Komponisten »Klassiker« auf ihrem Gebiet genannt, zum Beispiel Palestrina als Klassiker des Kontrapunkts, Johann Sebastian Bach als Klassiker der Kirchenmusik, Franz Schubert als Klassiker des Liedes oder Komponisten wie Béla Bartók und Igor Strawinsky als »Klassiker der Moderne«.Als klassisch können daneben auch bestimmte »Blütezeiten« oder Höhepunkte in der Entwicklungsgeschichte der Musik bezeichnet werden, zum Beispiel Abschnitte des 16. Jahrhunderts als klassisches Zeitalter der Messvertonung. In Frankreich gilt die Zeit vor allem Jean-Baptiste Lullys und Jean-Philippe Rameaus bis hin zur Revolution als das klassische Zeitalter der französischen Musik.In der Bezeichnung wie in der Auffassung von der »Wiener Klassik« kulminieren das wertende und das entwicklungsgeschichtliche Moment des Klassikbegriffs. Dabei wird unter Wiener Klassik nicht nur eine musikgeschichtliche Phase unter anderen verstanden, sondern zugleich »die Klassik« schlechthin, Bezugspunkt und Norm späterer Musikergenerationen, gewissermaßen als ein Äquivalent der antiken Klassik. Gleichwohl liegt, vergleichbar der Weimarer Klassik, in der Ortsbestimmung ein im Grunde einschränkendes, zumindest aber präzisierendes Moment des Klassischen, das in der Geschichte des Begriffs vor allem als nationale Zuordnung zum Deutschen begriffen wurde. Andererseits gründete die Musik der Wiener Klassik auf spezifischen Merkmalen kompositorischer Satzweisen, die keineswegs auf die Wiener Komponisten beschränkt waren, sondern die Musik seit etwa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa insgesamt bestimmten. Sie gelten für Zeitgenossen wie Jan Křtitel Vaňhal, Luigi Boccherini und Muzio Clementi ebenso wie für Luigi Cherubini oder Étienne Nicolas Méhul. »Klassiker« heißen diese Komponisten deshalb jedoch nicht. Denn in seiner wertenden und normativen Bedeutung wurde der Begriff ausschließlich den drei Wiener Klassikern Haydn, Mozart und Beethoven vorbehalten, während die Zeitgenossen - ein einmaliger Fall in der Musikgeschichtsschreibung - ohne Epochenbezeichnung blieben. Aus dieser nationalen Komponente wiederum leitete die deutsche Tradition im 19. Jahrhundert hegemoniale Führungsansprüche ab, wurden doch die drei »Wiener Klassiker«, vor allem Beethoven, als »deutsche« Komponisten zu den alles überragenden »Klassikern« auch deshalb, weil sie das, was schon Mitte des 18. Jahrhunderts »vermischter deutscher Geschmack« hieß, als Integration der verschiedenen nationalen Idiome (vor allem Italiens und Frankreichs) zu einer umfassenden, als übernational empfundenen Musiksprache ausgeformt hatten, wobei paradoxerweise das Übernationale zum Wesen deutscher Musik gerechnet wurde.Als Beginn der Wiener Klassik werden gemeinhin und einhellig die ersten 1780er-Jahre genannt. Tatsächlich steht das Jahr 1781 für ein kompositionsgeschichtlich entscheidendes Datum. In diesem Jahr vollendete Haydn seine sechs Streichquartette opus 33, die tatsächlich zu einer neuen, »klassischen« Reife fanden und besonderen Einfluss auf Mozart hatten. 1781 ist auch der Beginn von Mozarts Wiener Zeit, in der die großen, epochalen Werke und Werkgruppen entstanden. Ob als Ende der Wiener Klassik 1803, 1814 oder 1830 zu gelten haben, hängt davon ab, wieviel von Beethovens Werk dazu gerechnet wird: 1803 leitete Beethoven mit der erstmaligen Aufführung seiner dritten Sinfonie »Eroica« eine neue Ära der Sinfoniegeschichte ein; ab 1814, dem Jahr des Wiener Kongresses und des Beginns der Restauration, beginnt sich Beethoven, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, in ein esoterisches »Spätwerk« zurückzuziehen; und 1830 markiert, nach Beethovens Tod im Jahre 1827, die Wende zum »romantischen 19. Jahrhundert« durch Hector Berlioz' »Symphonie fantastique«.Prof. Dr. Wolfram SteinbeckDahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.Geschichte der Musik, herausgegeben von Michael Raeburn und Alan Kendall. Band 1: Von den Anfängen bis zur Wiener Klassik. Band 2: Beethoven und das Zeitalter der Romantik. München u. a. 1993.Die Musik des 18. Jahrhunderts, herausgegeben von Carl Dahlhaus. Sonderausgabe Laaber 1996.
Universal-Lexikon. 2012.